Betrogen - Roman

Leseprobe: Ausschnitt aus dem ersten Kapitel

Im April steigen die Temperaturen im Death Valley auf 31 Grad Celsius plus x und fallen auf 16 Komma Periode 4. Das hört sich ganz akzeptabel an, ist aber nur der Durchschnitt.

Jan Tolksdorff sind Zahlen egal und in Fahrenheit erst recht. Ihm ist einfach nur unerträglich heiß. Das Atmen fällt schwer. Er zieht sein häßliches, mit Lilatönen spielendes Hemd aus unechten Fasern vor den Mund.

Eigentlich ist Jan Tolksdorff hier, um die Wüste zu photographieren. Aber seit zwei Tagen schleicht er in der Nähe einer jungen Frau herum, die wie er in Furnace Creek zeltet. Es ist Mittag, und sie sitzt im Schatten auf der Terrasse des Visitor Centers und trinkt eine Dose Cola, an der das Kondenswasser herunterperlt. Das dünne Baumwollkleid mit Blumenmotiv rutscht ihre Schenkel hoch.

Jan Tolksdorff ist gebannt, wagt jedoch nicht, sie anzusprechen. Dabei scheint sie alleine zu reisen. Ohne Auto, sie schließt sich täglich Exkursionen der Ranger an. Schon am Morgen nach ihrer Ankunft fährt er der Gruppe hinterher. Nur um zu sehen, was die Ausflüge so bieten. Sein gelber Ford Falcon mit buy back guarantuee und einem Tachostand von über 160.000 Meilen wirbelt unangenehm viel Staub auf. Er drosselt die Geschwindigkeit.

Der Kleinbus biegt links in den Artists Drive, eine Einbahnstraße. Jan Tolksdorff interessiert sich heute nicht für das Farbspiel der Steine. Er parkt in gebührendem Abstand im Schotter und beobachtet die Reisegruppe.

Die Luft kocht. Kein Tier, das rennt, kein Vogel, der zwitschert. Zwei Mal kurbelt Tolksdorff die Scheibe herunter und wieder hoch, läßt sie schließlich offen, obwohl es keinen Unterschied macht. Vorsichtig entnimmt er der Phototasche das Teleobjektiv und schraubt es auf die Kamera.

Ihre Bewegungen sind kräftig, die Haltung betont gerade. Sie trägt Nike-Turnschuhe ohne Strümpfe und ihr Baumwollkleid mit Spaghettiträgern. Ein leicht löchriger Strohhut hält unzureichend die Sonne ab.

Dieses Kleid. Sie trägt es, als sie aus dem Greyhound-Bus steigt. Der Busfahrer ärgert sich, weil ihr Rucksack tief im Bauch des Gepäckraums steckt, und sie die einzige ist, die aussteigt. Sie verschränkt die Arme und bohrt ihren Blick in die schwarzen fleischigen Hände. Der Mann flucht schwitzend. Sie sagt ohne hörbaren Akzent: »Sie wußten doch, wo ich aussteige. ›Death Valley, der Ort für heiße Mädchen‹«, ahmt sie ihn nach. Er blickt erschrocken auf. Sie ist Ausländerin, er Amerikaner. Endlich zwängt er den prall gefüllten Rucksack heraus und eilt zurück ans Steuer. Wie schnell sich dicke Menschen manchmal bewegen können.

Geübt schwingt sie den Rucksack hoch. Im Visitor Center steht sie neben Jan Tolksdorff am Schalter. Sie riecht gut. Der Gurt des Rucksacks zieht einen Träger herunter, es ist der auf Jan Tolksdorffs Seite. In einer Bewegung streift sie ihn wieder über die Schulter und streicht eine Strähne zurück ins hellblonde Haupthaar. Augenbrauen und Wimpern sind unverhältnismäßig dunkel und fein geschwungen.

Blind blickt Jan Tolksdorff auf die vor ihm ausgebreitete Landkarte; von dem fließenden Gespräch versteht er nur Fetzen. Als sie freundlich dankend aufbricht, versucht er ungeschickt, schnell die Karte zusammenzufalten. Die Wasserflasche fällt herunter. Sie ist aus Plastik, aber er stößt sich beim Aufheben heftig den Kopf an der Kante des Tresens. Mit wehender Karte und der kühlen Flasche vor der Stirn verfolgt er sie bis zum Campingplatz.

Ihr Zelt steht im Planquadrat C 3, nur etwa dreißig Meter von seinem entfernt. Als sie es ohne Überzelt mühselig im steinharten Boden befestigt, klebt ihr Kleid am Körper.

Jan Tolksdorff holt sie sich ganz nah heran. Das Teleobjektiv ist von außergewöhnlicher Qualität, schlank und leicht gearbeitet. Ein echtes Schnäppchen. Es lag in einer Vitrine auf dem Krempelmarkt am Gleisdreieck. Der Typ wußte schon, was es wert war. Aber er brauchte Geld, Drogen, und Jan Tolksdorff kümmerte wenig, woher es stammte.

You got a fast car,
but is it fast enough so we can fly away,
we gotta make a decision,
we leave tonight or live or die this way.


Den Song von Tracy Chapman kennt Jan Tolksdorff schon auswendig. Ganz automatisch stimmt er ein.

Der Ranger geht seiner Arbeit nach. Mechanisch drehen sich die Köpfe in Richtung seiner Fingerzeige, so daß Jan Tolksdorff Gelegenheit bekommt, sie im Profil und frontal zu erwischen.

Plötzlich sieht sie direkt in seine Richtung. Fixiert das einsame gelbe Auto und den Mann darin. Jan Tolksdorff zieht schnell die Kamera vom Steuerrad und greift nach dem Hebel zum Öffnen der Motorhaube.

Hat sie ihn bemerkt? Noch mehr Schweiß tritt aus seinen Poren. Aufgeregt steigt er aus und beugt sich über den Motorraum. Er weiß nicht einmal, wo das Kühlwasser einzufüllen ist. Als er sich vorsichtig umdreht, steigt die Gruppe gerade wieder in den Bus.

»You got a problem with your car?«

Jan Tolksdorff schreckt hoch, ist so in Gedanken, daß er das nahende Auto nicht hört. Er winkt lächelnd ab.

Lange lächelt er nicht mehr, denn der Ford macht tatsächlich Probleme. Er springt nicht an. Tolksdorff wird nervös; der Bus ist schon außer Sichtweite. Achtlos läßt der Feinmotoriker die Haube knallen, es dauert eine Ewigkeit, bis das Jaulen des Motors in ein gleichmäßiges Surren übergeht.

Sie ist längst weg.

Jan Tolksdorff verflucht den Ford neben den analysierenden Augen eines Tankwarts. Er erfährt, daß der Welsh Plug kaputt ist und das gute Stück jeden Moment seine letzte Meile gefahren hat. Grünes Gel im Motorblock ist der Beweis. Der Tankwart sagt, an seiner Stelle würde er den Wagen stehenlassen und bietet ihm für ein geringes Aufgeld einen Nissan zum Tausch an, der ihm viele Jahre beste Dienste erwiesen hat. Jan Tolksdorff lehnt das Angebot höflich ab und bezahlt fünfzig Dollar für die schlechten Nachrichten.

Bevor er losfährt, öffnet er die Fahrertür einen Spalt und überprüft erstmals leicht herausgebeugt das Laufgeräusch des Motors.

Sein Lieblingsmotiv macht sich lange rar. Der Photograph hat gelernt zu warten und wird belohnt: im Schatten des Mondes und einer Taschenlampe sieht er nachts ihre gereckten Arme, das Kleid in ihren Händen; eine Silhouette, die er nicht festhalten kann, weil er in der Aufregung die Kamera nicht schnell genug findet. »Scheiße!« flucht er und kann sich nicht erinnern, jemals eine solche Frau gesehen zu haben.

Am nächsten Morgen verpaßt er ihren Aufbruch. Er hastet zum Visitor Center.

Sie sitzt in einem Jeep des National Park Service. Ihr Arm liegt lässig über der Lehne des Nachbarsitzes, auf dem ein junger, attraktiver Mann neben ihr sitzt. Sie lacht. Jan Tolksdorffs Mund verzieht sich ebenfalls zu einem Lachen. Ihr Blick wandert durch die Szenerie und bleibt wieder an ihm hängen. Die Miene verfinstert sich. Das Blut schießt Jan Tolksdorff in den Kopf. Er weiß nicht, wohin er sehen soll. Im nächsten Moment sitzt sie entspannt wie zuvor. Einbildung, es war nur Einbildung, das grelle Sonnenlicht.

Der Jeep fährt rasant los. Jan Tolksdorff erkundigt sich, wohin die Ranger an diesem Morgen fahren und wie lange so ein Ausflug dauert. Die freundliche Dame bedauert, daß der Ranger soeben das Gelände verlassen hat. Soll sie vielleicht versuchen, ihn über Handy zu erreichen? Soviel sie weiß, ist noch ein Platz frei. Nein, nein, keine Ursache, nur keine Umstände, erklärt Jan Tolksdorff mit Händen und Füßen und sagt eiligst good-bye.

Mittags ist er wieder da.

Sie sitzt im Schatten auf der Terrasse und trinkt eine Dose Cola, an der das Kondenswasser herunterperlt. Das dünne Baumwollkleid mit Blumenmotiv rutscht die Schenkel hoch. Sie leert die Dose, indem sie den Kopf in den Nacken legt. Mit beiden Händen drückt sie das Aluminiumgehäuse in der Mitte zusammen. Dann steht sie auf und schreitet in Richtung des Mülleimers, der in unmittelbarer Nähe zu Jan Tolksdorff aufgestellt ist. Langsam läßt sie die Dose fallen, schaut noch, welchen Platz sie findet.

Plötzlich reißt die junge Frau den Kopf hoch und spricht den gebannten Jan Tolksdorff scharf an: »You follow me!«

Jan Tolksdorff ist geschockt. Er hat nicht erwartet, jemals mit ihr zu sprechen.

»I follow you«, stammelt er, hörbar mit deutschem Akzent.

»Und warum?« fährt sie ihn an, seine Herkunft erahnend. »Was wollen Sie von mir? Sie machen mir Angst!«

Er lächelt sie verlegen-dümmlich an.

»Lassen Sie mich in Ruhe!«

»Warten Sie, bitte – warten Sie! Ich habe ...«

»Sie haben was?« Ihre Augen blitzen.

»Ich – ich habe noch nie eine solche Frau gesehen.«

»Oh Gott! Was sind Sie denn für einer? Wo kommen Sie her, aus Hintertupfingen?«

»Berlin, Berlin.« In seiner Antwort schwingt ungewollt die Melodie der Fußballfans mit, die ihre Mannschaft zum Endspiel in die Hauptstadt singen. Sie sieht ihn entgeistert an, will sich abwenden.

»Bitte, so warten Sie doch«, sagt er und greift nach ihrer Schulter. »Sie müssen entschuldigen, ich bin ein bißchen durcheinander. Darf ich Sie zu einem Getränk einladen?«

»Fassen Sie mich nicht an!« entgegnet sie unmißverständlich. Dennoch zögert sie.

Jan Tolksdorff reagiert gedankenschnell: »Death Valley ist so betörend, da ist es schade, mit seinen Erlebnissen allein zu bleiben.« Sie zischt: »So, so, betörend ist es hier. Legt wert auf schöne Worte. Und spannt Alleinreisenden hinterher.«

In diesem Augenblick hätte sie gehen müssen.


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Christian Gloystein
Betrogen

Erscheinungsdatum: 2006
broschiert
Schardt Verlag Oldenburg
ISBN: 3-89841-250-4
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